Begegnung im TÜRKENSCHANZPARK

BEGEGNUNG im TÜRKENSCHANZPARK

© Gerlinde Pauschenwein 

 

Wie so oft spazierte ich auch an jenem Sonntagvormittag zu meinem Energiebaum. Eine dünne Schneeschicht bedeckte den Park. Vor mir ging langsam, mit hängenden Schultern in einen schwarzen Parka gehüllt, ein schlankes Mädchen in Jeans und blauen Sneaker Stiefeletten. Durch einen Windstoß fiel die Kapuze nach hinten, blitzblau gefärbtes kurzes Haar wurde sichtbar. Mit wenigen Schritten überholte ich das etwa 16-jährige schluchzende Mädchen.

Mein Bauchgefühl signalisierte: > Hier darfst du nicht vorübergehen, höfliche Zurückhaltung wäre verantwortungslos<. Entschlossen griff ich nach der Packung Papiertaschentücher in meiner Manteltasche und hielt sie dem Mädchen entgegen.

"Kann ich dir helfen? Hier, nimm, wenn du willst!"

Schluchzend zog sie einige Taschentücher heraus und stammelte: "Nein, es ist alles zu spät."

"Was bedrückt dich so sehr? Willst du darüber reden?" Sie wischte ihre Tränen von den Wangen, putze sich die Nase, dabei sah sie mich an und überlegte in diesen wenigen Sekunden ob sie mir vertrauen konnte.

„Ich heiße Linde", sagte ich.

"Sonja" stieß sie hervor.

"Komm Sonja, gehen wir zu meinem Energiebaum, dort können wir uns anlehnen und  reden."

Sie nickte. Schweigend spazierten wir einige Meter den Hügel zur Paulinenwarte hinauf, dann wenige Schritte hinunter zu jener Eiche, aus deren kurzem Stamm, 40 cm oberhalb des Bodens, vier dicke Stämme gewachsen waren. In der Mitte ist ein Baumstumpf erkennbar. Hier hatte ich viele Stunden in den Jahren, seit ich in Wien lebte, unter dem dichten Laub der Krone sitzend, lesend oder schreibend, verbracht. Wir lehnten uns an den linken Ast. Ich wartete, ob sie mir etwas erzählen wollte. Es dauerte einige Minuten, dann sprudelte ihr ganzes Leid aus ihr heraus. Als Einzelkind, wohlbehütet in einer angesehenen Familie aufgewachsen, lernte sie einen Studenten kennen, der in die Drogenszene hineingeschlittert war. Als Liebesbeweis verlangte er immer öfter Geld von ihr. Sie bekam reichlich Taschengeld, hatte einiges angespart, das reichte nur für zwei Monate, danach begann sie, ihre Eltern zu bestehlen. Vor einem Tag wurde sie zur Rede gestellt. Ihre Eltern wussten nichts von ihrem Freund. Sonja erfand Lügengeschichten, die nicht überzeugend waren. Der Vater drohte ihr, wenn sie nicht die Wahrheit sagte, würde sie nach Weihnachten in ein Internat kommen. Am Nachmittag sollte ein weiteres Gespräch stattfinden, dem wolle sie entgehen.

Leise sagte sie: "Ich will nicht mehr leben!"

Ich war mir der Verantwortung bewusst, auf die ich mich eingelassen hatte. Eine Stunde standen wir, ohne zu frösteln, an die Eiche gelehnt und redeten.

Das Gespräch endete mit Sonjas Versprechen, ihren Eltern alles wahrheitsgemäß zu erzählen. Ich gab ihr meine Visitenkarte und bat sie, mich anzurufen. Spontan umarmte mich Sonja, DANKE! hauchend.

Eine Woche später traf ich Sonja noch einmal bei der Eiche. Alles war gut ausgegangen, die Eltern waren zwar sehr enttäuscht, sie zeigten zuletzt doch noch Verständnis, ohne sie zu bestrafen. Die einzige Forderung bestand darin, den Freund nie wieder zu treffen. So endete ihre erste Liebe mit einer höchst negativen Erfahrung. Sie sei erleichtert, ihren Eltern alles gestanden zu haben, und werde in Zukunft vorsichtiger sein, wenn sie jemanden kennenlernt, sagte sie mir abschließend.

 

Ich war sehr froh, dass diese Begegnung ein gutes Ende gefunden hatte.