1.               PAUL ¬ Liebe auf den ersten Blick

Was aus Liebe getan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.                                                     Friedrich Nietzsche

 

Als ich Paul kennenlernte, war ich Ende zwanzig, seit einem Jahr Single, an die große Liebe glaubte ich nicht mehr. Das Landleben hatte ich aufgegeben, um in der Großstadt Wien neu durchzustarten. Beruflich war alles geregelt, seit September unterrichtete ich an einer renommierten „Höheren Schule“. Einerseits war ich in Aufbruchstimmung, andererseits kamen leichte Bedenken ¬ allein auf mich gestellt, eine Fremde unter Fremden ¬ würde ich mich einsam fühlen? Die kulturellen Möglichkeiten wie Museen, Konzerthaus und Theater würde ich nutzen, Kaffeehäuser zu besuchen war Ende der 70er Jahre für eine Singlefrau nicht opportun. Im Kolleginnenkreis fand ich dann doch bald nette lose Kontakte.

Gertrud, eine Bekannte aus dem Burgenland, bat mich eines Samstags im Oktober, sie zum Heurigen Mandler-Tietz zu begleiten. Sie sollte ihren Freund Leo abholen, der in einer Herrengesellschaft etwas über den Durst getrunken hatte.

Wir betraten das Lokal, Gertrud hielt Ausschau nach Leo, während mein Blick unbeteiligt durch den lärmerfüllten Saal schweifte. Am Ende des Saales traf ich unvermutet auf den Blick eines bärtigen Mannes, der mir freundlich zulächelte. Ich erwiderte das Lächeln und verspürte den unerklärlichen Drang, diesen Mann kennenzulernen.

Das Schicksal oder der Zufall wollte es, dass jener Mann zur Herrenrunde von Gertruds Freund gehörte. Wir kamen dem Tisch immer näher, sein Blick hatte mich fixiert, ließ mich nicht los, entfachte eine Sehnsucht in mir, die ich nie vorher gekannt hatte. Gertrud machte mich mit der Runde bekannt, wir wurden mit Vornamen vorgestellt. Während Gertrud mit Leo und drei jungen Männern blödelte, verwickelte mich Paul mit seinen tiefblauen Augen in ein Gespräch über Bücher, über den Sinn des Lebens, über Umweltschutz. Die Themen reichten von Viktor Frankl, über Erich Fromm bis Konrad Lorenz. Wir befanden uns in einer Blase von Übereinstimmung, von gegenseitigem Verstehen, von Seelenharmonie. Die anderen um uns waren vergessen.

Nach zwei Stunden unterbrach Gertrud unser Gespräch, meinte, es sei Zeit aufzubrechen. Leo lallte, zu Paul gewandt: „Der Philosoph hat heute endlich jemanden gefunden, mit dem er diskutieren kann, statt die Welt von der heiteren Seite zu sehen.“

Wir verabschiedeten uns, es war klar, Gertrud würde mich nach Hause bringen. Als Paul mir zum Abschied die Hand küsste und ein warmer Schauer meinen Körper durchströmte, wusste ich, dieser zwanzig Jahre ältere Mann wird eine bedeutende Rolle in meinem Leben spielen.

Paul reichte mir seine Visitenkarte: „Linda, bitte rufen Sie mich am Montag im Ministerium an“.

Lächelnd antwortete ich: „Ich bin gewohnt, dass ich angerufen werde, wenn sich jemand für mich interessiert“. Damit hatte ich ihm die Entscheidung, wie es weitergehen würde, zugespielt. Ich wusste, ER wird mich am Montagnachmittag anrufen.

Was ich an diesem Abend nicht ahnte war, dass Paul die größte, leidenschaftlichste Liebe meines Lebens sein wird.


2.               MICHA in Afrika - Telepathie?

„Telepathie ist eine normale Kommunikationsform.“

                                                       Rupert Sheldrake

 

Ein Spaziergang in Rust an einem sonnigen Februartag war geplant. Um zehn Uhr wollte Paul mich abholen. Ich hatte eine unruhige Nacht mit Angstträumen hinter mir und lag am Morgen wie gerädert im Bett, unfähig aufstehen zu können. Vor meinem geistigen Auge sah ich meinen Jugendfreund Micha blutüberströmt in einer Wiese liegen. Ich sah mich in Afrika, einem Land, das ich nur aus Filmen kannte. Undefinierbare Angst kroch hoch. Mein Zustand verschlechterte sich zusehends, ein Weinkrampf, den ich trotz größter Willensanstrengung nicht stoppen konnte, schüttelte mich. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren.

Micha bereiste als Forscher Indien und Afrika. Seit zehn Jahren schickte er von jeder Forschungsreise Ansichtskarten. Wo er sich zurzeit aufhielt, wusste ich nicht.

In diesem Ausnahmezustand fand mich Paul im Bett liegend. Er war verwirrt. Ich erklärte ihm, ein intensiver Traum am Morgen habe diesen Zustand ausgelöst. Würde er trotz des großen Vertrauens, das uns verband, verständnisvoll auf diese unerwartete Situation reagieren? Paul, ein spiritueller Mann, setzte sich an mein Bett, strich sanft über meine Haare, hielt meine Hände und erklärte, diese Erfahrung könne telepathisch sein. Er vermutete, dass meinem Jugendfreund etwas zugestoßen sei. Pauls Stimme, seine sanfte Berührung beruhigten mich. Nach einigen Minuten ging ich ins Bad. Während ich duschte, trug Paul ausführlich den Vorfall unter Angabe der Zeit auf der Rückseite des Tischkalenders ein.

Auf der Fahrt nach Rust wollte Paul über den Vorfall sprechen, auch bat er mich, bei Michas Eltern anzufragen, wo dieser sich aufhielte. Da es keine plausible Erklärung für diesen Anruf gegeben hätte, weigerte ich mich. Ich wechselte rasch das Thema, es war mir unangenehm daran nur zu denken, denn diese unerklärliche Erfahrung konnte ich in meinen bisherigen Lebenserfahrungen nicht einordnen. Über Telepathie hatte ich nie etwas gehört.

Wochen später stand an einem lauen Sommerabend unerwartet Micha vor meiner Tür. Er trug Halskrause, am linken Arm und Bein einen Gipsverband, sein Oberkörper steckte in einem Gipskorsett. Als ich ihn so sah, lief Gänsehaut über meinen ganzen Körper, ich sah ihn entsetzt an. Micha war dies nicht entgangen, er stellte dennoch keine Frage. Bei einer Tasse Tee erzählte er mir ausführlich vom Motorradunfall in Südafrika. Ein Lastwagenfahrer, von der tiefstehenden Morgensonne geblendet, hatte ihn auf einer Landstraße übersehen. Unbeweglich vor Schmerzen lag er lange bei vollem Bewusstsein in einer Wiese. Eine englischsprechende Afrikanerin, eine Nurse, hatte ihn gefunden, sonst wäre er verblutet. Ausgiebig berichtete er von seinen Reisen, als er ging, sagte er: „Du hast es gespürt, nicht wahr?“

Ich nickte betroffen, wollte nicht darüber reden, sondern zeigte ihm Pauls Aufzeichnungen im Kalender.

„Das ist kein Grund zur Beunruhigung. Seelenverwandte wie wir es sind, stehen im morphogenetischen Feld in Verbindung, ganz gleich, wo wir uns befinden. Alles ist mit allem verbunden. Du weißt, mein Forschungsgebiet betrifft die Grenzgebiete der Wissenschaft.“ Er lächelte wissend.

 

Mehrere ähnliche unerklärliche Vorfälle in den folgenden Jahren beunruhigten mich jedes Mal aufs Neue.

Gibt es Telepathie? Gibt es eine Vorahnung?

Diese Fragen konnte ich bis heute nicht klären.


3.               Abschied

„Leuchtende Tage. Nicht weinen, dass sie vorüber.

 Lächeln, dass sie gewesen.“

                                                                 Konfuzius

 

Zwei beglückende Urlaubswochen gingen zu Ende. Im Wissen, einander vier Wochen nicht zu sehen, schliefen Paul und ich eng umschlungen erst im Morgengrauen ein. Paul beteuerte immer wieder, ich sei die große Liebe seines Lebens. Dennoch schwang in dieser vorletzten Nacht erstmals unerklärliche Angst mit.

Den letzten Tag unserer Reise verbrachten wir im Paznauntal. Ischgl war der ideale Ausgangspunkt für eine faszinierende Wandertour im Sommer. Mit der Bergbahn fuhren wir hinauf und tauchten in die großartige Bergwelt der Silvretta ein. Auf malerischen Wegen kamen wir an urigen Berghütten vorbei, wo wir uns stärkten. Im grünen Gletscherwasser eines Stausees spiegelten sich Wolken, Berggipfel und unsere eng aneinandergeschmiegten Körper. Wir erlebten in tiefer Verbundenheit stille Stunden in der Natur.

Am nächsten Morgen stellte sich heraus, dass wir beide vom Tod eines Kindes geträumt hatten, Paul auch von seiner weinenden Mutter. Ich war sehr beunruhigt.

Ich musste nach Wien zurück, Paul würde wie jedes Jahr den Urlaub mit seiner Familie in Tirol verbringen. Während der Fahrt zum Bahnhof waren wir einsilbig, Ich konnte die Tränen nicht verbergen. Noch nie war mir ein Abschied so schwergefallen. Paul sagte unvermittelt: „Liebste Li, du solltest dir keine Sorgen machen, weil wir beide vom Tod geträumt haben, niemand wird sterben!“ Er betonte dies so eindringlich, als müsste er sich selbst davon überzeugen.

„Dieser Traum symbolisiert die notwendige Veränderung. Ich werde mich zu dir, meiner großen Liebe, bekennen.“

„Paul, nie habe ich verlangt, dass du dich scheiden lässt, ich bin glücklich und liebe dich, auch wenn wir nicht zusammenleben können. Entscheidend ist, dass ich dein Lebensmittelpunkt bin, so wie du meiner bist. Ein gemeinsames Kind soll dich nicht verpflichten, deine Familie zu verlassen. Seit unserem übereinstimmenden Traum fühle ich eine unerklärliche Angst in mir, obwohl die letzten Jahre, die glücklichsten meines Lebens waren.“

„Li, ich kann es nicht oft genug sagen, du bist mein größtes Glück! Wir werden unsere Liebe mit einem Kind krönen, lass uns im Herbst weiterplanen. Jetzt mach ich mir Gedanken, wie ich vier Wochen ohne dich überleben kann. Ich werde einen Weg finden, damit du in diesen vier Wochen nach Tirol kommen kannst. Ich kenne von meinen einsamen Wanderungen einen Bauernhof, der Privatzimmer vermietet. Mich kennt dort niemand, da könnte ich dich für eine Woche unterbringen.“

Paul parkte vor dem Bahnhof, löste ein Ticket und begleitete mich in das leere Abteil. Wie immer hatte er seine kleine Kamera griffbereit. „Bitte schenk mir noch einmal dieses strahlende Lächeln, das ich so liebe“. Er drückte ab, danach nahm er den Film aus der Kamera und gab ihn mir. „Bitte nimm du ihn zu dir, man kann nie wissen, wem er im Fall des Falles in die Hände fällt. Ich werde dich morgen früh um 9:00 Uhr anrufen. Beim Rundgang mit Flocki spaziere ich ab nun täglich zur Telefonzelle am Dorfplatz, niemand wird auf die Idee kommen, mich zu begleiten. Wir werden täglich telefonieren. Heute wartet ein Bock im Wald meiner Freunde auf mich“.

Nach einer letzten innigen Umarmung verließ Paul mit Tränen in den Augen den Zug. Lange sah ich ihm nach, traurig winkte er mir zu, bis wir uns in der immer größer werdenden Entfernung aus den Augen verloren. Meine Tränen tropften noch lange unaufhaltsam auf den Metallrahmen des offenen Fensters.


4.               Tod und doppelbödige Moral

„Das Geheimnis der Liebe ist größer als das Geheimnis des Todes.“                                                                   Oscar Wilde

 

Punkt 9:00 Uhr läutete das Telefon! Ich hob den Hörer ab und sagte freudig: „Guten Morgen Paul, wie geht es Dir? Hast du gestern einen Bock geschossen?“

Einige Sekunden Schweigen am anderen Ende, dann hörte ich eine stammelnde Stimme. „Hier spricht Edgar, ich fühle mich verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, dass Vater gestern nach einer anstrengenden Jagd im Auto des Jägers an einem Sekundenherztod verstorben ist.“ Danach wurde das Gespräch unterbrochen.

Voller Verzweiflung schrie ich auf, wollte Fragen stellen, genauere Umstände erfahren, hören, was passiert war. Edgar war nicht bereit, mit mir zu sprechen. Ich konnte die Situation nicht begreifen, zuerst dachte ich, in einem bösen Traum gefangen zu sein. Nach einigen Schrecksekunden realisierte ich, dass ich mit dem Telefonhörer in der Hand im Vorzimmer stand, sah mich im großen Spiegel, sah meine entsetzten Augen, mein fahles Gesicht. Nein, es war kein Traum, es war schreckliche Realität. Es war geschehen! Mein Angstgefühl war eine Vorahnung!

Und unsere Träume vom Tod? Ich erinnerte mich an Pauls Worte: Wenn man vom Tod träumt, hat dies eine andere Bedeutung, niemand wird sterben! Wie sonst sollte ich diese Träume deuten?

Zum ersten Mal im Leben war ich mit dem Tod konfrontiert, verlor jenen Menschen, den ich geliebt, der meiner Seele nahe war, der tiefe Liebesfähigkeit in mir geweckt hatte. Paul hatte mir Geborgenheit und Glück geschenkt, das mit Worten nicht auszudrücken war. Für Paul war ich in den letzten Jahren der Lebensmittelpunkt gewesen, hatte seine aufreibenden beruflichen Sorgen mit ihm geteilt. Von einer Sekunde auf die andere war unser Leben zerbrochen. Vorbei das Glück, vorbei das Hoffen auf Wunscherfüllung eines gemeinsamen Kindes.

Tags darauf meldete sich Edgar noch einmal und erklärte kurz angebunden, sein Vater werde im Krematorium eingeäschert, die offizielle Trauerfeier werde in einigen Wochen in Wien stattfinden, die Urne danach im kleinsten Kreis beigesetzt. Er bat mich, nicht zum offiziellen Begräbnis zu kommen, ich werde in der Zeitung sicher darüber lesen können. Pauls engster Freund Herbert meldete sich ebenfalls. Aufgeregt teilte er mit, in Pauls Aktenkoffer befanden sich mein Schlüsselbund und ein großes Foto von mir. Die Witwe sei empört, sie wolle wissen, wer die Frau auf dem Foto sei.

„Komm nicht zum Begräbnis! Den Schlüssel bringe ich Dir in ein paar Wochen vorbei!“ Es klang wie ein Befehl. In meine Trauer mischte sich Wut. Mit welchem Recht wollen mir diese beiden Männer verwehren, am Begräbnis teilzunehmen? Niemand würde mich erkennen unter den hunderten Trauergästen.

Kurz vor dem Begräbnis kam ein Anruf aus Pauls Büro. Seine engste Mitarbeiterin, die mich – wie auch die fünf Sekretärinnen – flüchtig kannte, bot mir an, mich ihnen anzuschließen, man würde mir den ersten Platz in der für die Mitarbeiter vorgesehenen Reihe reservieren.

Als Pauls Freunde vor dem Altar eine Kette bildeten und drei Rosen niederlegten, herrschte absolute Stille. Ich konnte das Schluchzen kaum zurückhalten. Als die ersten Orgeltöne einer Bachkantate erklangen, verließ ich fluchtartig die Kirche.

Niemand war da, um mich zu trösten, nur der Tod breitete seine schwarzen Flügel über mir aus.