WIE LEBT MAN RICHTIG?

In memoriam Chris 2

 

 

Mit der Zeit ist der Schmerz dem Leben gewichen. Christian kann ich dennoch nicht vergessen. Es gab seit seinem Tod keinen interessanten Mann, mit dem ich mir eine Liebesbeziehung vorstellen konnte, auch wenn ich mich hin und wieder mit Männern treffe.

Damals, nachdem ich die Todesanzeigen im Internet gefunden hatte, vernichtete ich all seine Mails, heute bereue ich diesen Schritt zutiefst. Nur einige Essays behielt ich zurück die eng mit seinem Leben verknüpft waren und seine ersten Mails. Es war eine unüberlegte Reaktion aus Sorge, diese hunderten lyrisch- erotischen Mails könnten gefunden werden, falls ich plötzlich versterben würde. Niemand sollte nach meinem Tod Christians Wortschwall an Sinnlichkeit in die Hände bekommen. Ab dem ersten Jahr unserer Liebe hatten wir begonnen, alle Mails auszudrucken.

>In späteren Jahren, wenn der Hurrikan unserer Liebe nur mehr Erinnerung sein wird, unsere Zuneigung und Liebe nur noch als zarte Brise zwischen uns weht, dann werden wir in unseren Siebzigern oder Achtzigern gemeinsam daraus ein Buch formulieren, aufzeigen, dass Leidenschaft keine Altersgrenze kennt. Es soll ein erotisch-berührender Liebesroman zweier Menschen jenseits der Fünfzig werden<, sagte Chris damals verschmitzt lächelnd.

Das Schicksal gönnte ihm nicht, 70 Jahre alt zu werden.

In Trauer eingehüllt, las ich damals jedes einzelne Mail bevor ich es zerriss. Wehmut begleitete die radikale Auslöschung seiner lyrischen Texte. Plötzlich waren all die Gefühle wieder aufgebrochen die ich für ihn empfunden hatte.

Gefühlte Empfindungen, aufgehoben die Zeit! Ich spürte seinen ersten Kuss auf der Brücke in Gmunden, auch damals war die Zeit stillgestanden.

Christian war ein Meister der Worte. Seine Essays zu vielen Bereichen des Lebens, die über Jahre publiziert wurden, hatte er mir bei seinen Besuchen mitgebracht. Er war ein sinnlicher Mann voller Lebensfreude, der das Leben in all seinen Facetten bis zur Neige auskosten wollte. Über sein Sterben, seine letzten Monate weiß ich noch immer nichts.

Ich wünschte so sehr, sein Geist wäre ihm erhalten geblieben. Hatte er noch Erinnerungen an alle erfüllenden Momente, auch an die beglückenden Liebesstunden seines Lebens? Konnte er sich an mich, seine Geliebte, seine Diotima erinnern?

Konnte Christian die Antwort auf jene Frage finden, die er sich und mir so oft gestellt hatte: WIE LEBT MAN RICHTIG? Er wünschte sich, dass ein sachter Wind die Nebel hebt und er für Augenblicke Gewissheit erhält. Wir fanden in unseren Diskussionen keine schlüssige Antwort darauf.

Wir liebten das Leben. Wir schätzten die persönliche Freiheit als hohes Gut. Wir liebten einander aus vollem Überschwang unserer immer noch jugendlichen Herzen. Wir genossen die Vereinigung unserer Körper, unsere Seelen waren miteinander verschlungen.

Vielleicht ist diese Freude am Leben, die Liebe, die aus tiefster Seele schwingt, die einzig gültige Antwort auf diese Frage.