ERSTE MALTHERAPIESTUNDE

 

 © Gerlinde Pauschenwein

 

 

Wie wichtig Kreativität für mein Leben ist, wusste ich längst. Doch nie hatte ich mir Gedanken gemacht, wie sich Kreativität auf den Einzelnen auswirkt. Der Aufenthalt am Weißen Hof zeigte es mir.

Nach Implantation einer Teilprothese befand ich mich seit einer Woche auf REHA, um die Streckung der Hand zu verbessern. Für mich als Künstlerin war eine funktionstüchtige Hand auch zum finanziellen Überleben notwendig. Notfalls würde ich mich auf die linke Hand umschulen, beschloss ich. Mit der Therapeutin konnte ich kurz vor Beginn der ersten Maltherapiestunde ein informatives Gespräch führen.

 

Die Türe zum Therapieraum stand offen, ein etwa 35-jähriger bulliger, großer Mann trat ein. Ich dachte, er habe sich im Raum geirrt, denn beide Hände waren oberhalb des Handgelenkes amputiert. Die Therapeutin begrüßte ihn freundlich mit Vornamen. Herr K. habe durch einem Stromunfall beide Hände verloren, er malt sehr gerne und kommt jeden Tag, erklärte sie mir. Ich blickte beide verwirrt an, wusste nichts zu sagen. Herr K. ging zu einem Tisch, der auf seine Größe höhenverstellt war. Die Therapeutin stellte zwei Gurkengläser mit Wasser und einen Malkasten mit Wasserfarben darauf. Zwei große Blätter Zeichenpapier fixierte sie mit Klebeband und dann staunte ich noch mehr. Sie nahm große dicke Borstenpinsel, wie Maler sie verwenden und klebte auf jeden Armstumpf je einen Pinsel mit hautfreundlichem Klebeband. Freudestrahlend begann Herr K. am Tisch stehend mit großen gestischen Bewegungen bunte abstrakte Bilder zu malen.

 

Sprachlos setzte ich mich an den Tisch und versuchte mit der linken Hand zu zeichnen. Der Raum füllte sich mit fünf weiteren Patienten, jeder hatte seinen Platz und arbeitete still vor sich hin. Im Rollstuhl sitzend brachte man zuletzt ein sechsjähriges, beinamputiertes Mädchen mit blonden Locken an den Nebentisch, alle begrüßten sie freudig. Ich lächelte sie an und fragte nach ihrem Namen. Maria mit ihren aufgeweckten blauen Augen strahlte mich an und begann sofort zu malen. Mit Wasserfarbe rote Streifen, Spiralen, Kreise auf Zeichenblätter, im 5 Minutentakt je ein Blatt nur rot. Das Wasser im Gurkenglas war ebenfalls rot gefärbt, weil sie immer wieder den Pinsel eintauchte. Ich war zu abgelenkt um mich auf meine Arbeit konzentrieren zu können.

"Du magst die Farbe Rot aber sehr gerne", flüsterte ich ihr zu. Maria sah mich traurig von der Seite an.

"Nein, mag ich nicht! Das ist der Rotwein, den mein Papa immer getrunken hat", flüsterte sie zurück und zeigte auf das Gurkenglas und danach auf ihre Blätter.

"Und das ist das Blut aus meinem Bein, als mein Papa mit dem Traktor drübergefahren ist. Er hat mich nicht gesehen, weil er betrunken war."

Das war zu viel für mich. Betroffen stand ich auf, streichelte ihr kurz übers Haar, entschuldigte mich bei der Therapeutin und ging mit tränennassen Augen hinaus. Diese beiden schicksalhaften Begegnungen haben mein weiteres Berufsleben geprägt. Ich wurde Maltherapeutin und übte diesen erfüllenden, sehr herausfordernden Beruf bis zur Pensionierung aus.