WENDEPUNKT

 

 © Gerlinde Pauschenwein

 

>Ich sehe alles verschwommen, diese Brille passt nicht!<, sagte ich zu dem jungen Verkäufer im Geschäft eines Brillendiscounters. >Gnä`Frau, Sie miassen ihna on die Bifokalbrille gwöhnen! Es wird scho passen!< Ich bezahlte unwillig, steckte die neue Brille in die Tasche und behielt für die Heimfahrt die alte auf. Diese Entscheidung war vielleicht lebensrettend.

Tags darauf kam eine Galeristin aus Wien, um meine neuesten Bilder für eine geplante Ausstellung anzusehen. Ich empfing sie mit leichtem Schwindelgefühl in der schicken Armani-Brille. Nach einer kurzen Besprechung wollte ich die Dame in den eine Etage tiefer liegenden Atelierraum führen. Ich stieg auf die erste Stufe, alles war verschwommen, ein heftiger Schwindel überkam mich. Ich sah keine Stufenkanten, trat ins Leere und stürzte kopfüber 12 Stufen hinab. Im Bruchteil einer Sekunde wurde mir klar, wenn ich mit dem Kopf unten auf den Cotto-Fliesen aufschlage, könnte ich tot sein. Intuitiv legte ich die rechte Hand schützend vor den Kopf. Eine Sekunde später hörte ich den Aufschrei der Galeristin und fühlte einen unbeschreiblichen Schmerz. Ich konnte mich nicht bewegen, stammelte nur: Im Nebenhaus wohnt ein Arzt. Mein Noch-Ehemann kam nach drei Minuten – für mich eine gefühlte Ewigkeit – gelaufen. Er versuchte mich zu beruhigen bis die Rettung kam und mich mit Luftpolsterschiene stabilisiert ins Krankenhaus brachte.

>Es handelt sich um einen Trümmerbruch des Radiusköpfchens im rechten Ellbogen und massive Prellungen an Schulter und Hüfte<, wurde mir sachlich vom Röntgenologen mitgeteilt. >Morgen bekommen sie eine Teilprothese. Es wird Monate dauern, bis die Hand brauchbar ist, eine Behinderung wird bleiben! Sechs Wochen nach der OP kommen sie auf Reha<, ergänzte ein anderer Arzt lapidar, ohne jedes Mitgefühl. Eine Infusion gegen die Schmerzen wurde mir verabreicht.

 

Der Schock war groß, mein bisher geordnetes Leben war ins Chaos gestürzt. Viele Monate Therapie, bleibende Behinderung? Scheidung in fünf Wochen. Wie soll das Leben weitergehen? In Zukunft muss ich vom Bildverkauf leben. Und nun? Geplante Ausstellungen für Monate gestrichen! Existenzängste krochen hoch, Verzweiflung kam auf. Freundin Helga brachte mir wunschgemäß Bleistift, Kuli und Schreiblock. Am Tag nach der OP begann ich trotz der Schmerzen mit Schreibübungen der linken Hand. Ich wollte das Scheidungsprotokoll unterschreiben können. Nacheinigen Tagen glich das Gekritzel immer mehr einer Unterschrift. Freundin Doris dachte daran, wie wichtig für mich klassische Musik ist. Sie versorgte mich mit Walkman und all meinen Lieblingsstücken von Beethoven und anderen Klassikern. Aus meinem Atelier ließ ich mir Kunstbücher und Lyrik bringen.

 

Das Wort Resilienz kannte ich damals noch nicht. Heute weiß ich, meine Freundinnen Helga und Doris, Beethoven, Lyrik und meine Kreativität konnten dazu beigetragen, dass ich den Mut nie verloren habe.

 

 

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