© Gerlinde Pauschenwein
Als ich das Mail von Nick las, hatte ich sofort ein ungutes Bauchgefühl. DEN Mann kenne ich! Alles passte auf Paul, den Musiker und Ehemann meiner Freundin Karin. Kann es sein, dass Paul im Internet nach Abenteuern sucht?
Ich sah sein Profil genauer an: Musiker, 55, Schwerpunkt Jazz, dunkelhaarig, groß, sportlich, agil. Sein Slogan lautete: >Neue Liebe, nicht nur für einen Sommer<. Oh, er suchte kein Abenteuer, sondern einen Neubeginn! Karin hatte bei unserem letzten Treffen angedeutet, dass Paul seit einigen Monaten weniger Zeit für sie habe. Er müsse häufiger zu Proben, da er sich um zusätzliche Engagements bemühe, um das Familienbudget aufzubessern. Seit Herbst studierte auch die jüngste Tochter in Wien. Karin war seit ihrer Krebserkrankung in Frühpension, es ging ihr gesundheitlich schlecht.
Sollte ich antworten, oder es beim Verdacht belassen? Wenn es ein Doppelgänger ist, dann verdächtige ich Paul, den ich seit 20 Jahren kenne, zu unrecht. Ich beschloss, ihm zu antworten und bat um ein Foto. Das Foto brachte den Beweis! Paul schlug ein Treffen beim Diglas in der Wollzeile vor. Zum Glück verlangte er kein Foto.
Kneifen, oder hingehen? Ich überlegte ein schlaflose Nacht lang und entschied mich, hinzugehen. >Das bin ich Karin schuldig<, dachte ich.
Sein Entsetzen war groß, als ich auf ihn zukam und mich als >Isabella< zu erkennen gab. Nach einigen Schrecksekunden versuchte er, die Situation zu erklären.
Karins Krebserkrankung war ein massiver Einschnitt im Leben. Zuerst die Brustamputation, dann Monate der Rekonvaleszenz, ihre Ängste, ihre Stimmungsschwankungen, die krankhafte Eifersucht, sie war eine andere Frau geworden. Er flüchtete sich in den Beruf, in die Musik. Nach 20 Ehejahren war die Liebe längst der Routine, der Gleichgültigkeit gewichen. Sex hatten sie seit Jahren nur aus Gewohnheit, ohne Leidenschaft, dann kam diese Krankheit!
Er habe auch nur ein Leben und das Recht auf gelebte Sexualität, erklärte er mir. "Willst Du Karin in ihrem Zustand verlassen?!" fragte ich.
Er zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es nicht, ich schwanke zwischen Resignation und Verantwortungsgefühl. Liebe empfinde ich keine mehr."
"Karin hat sich, um Dir zu gefallen, vor einem Jahr in einer fünfstündigen Operation ihren Busen aufbauen lassen. Sie liebt dich immer noch."
"Ich kann dennoch nicht mit ihr schlafen, ich muss immer daran denken, dass ihr Bauchfett ihr Busen ist."
Ich schluckte. Dies war eine so brutale, gefühllose Aussage, dass ich das Gespräch nicht weiterführen konnte.
"Paul! Es steht mir nicht zu, über Deine Situation als MANN, die sicher nicht leicht ist, zu urteilen. Ich bin nur entsetzt, wie gefühllos Du als Ehemann bist. Kannst Du Dir überhaupt vorstellen, was es heißt, schwer krank zu sein, den Tod vor Augen? Karin hat Metastasen in der Leber, in der Wirbelsäule... Du weißt, was dies heißt? "
Er schwieg.
"Ich werde Karin von dem Treffen nichts erzählen! Sie soll nicht noch mehr leiden!"
Verstört verließ ich das Café.